Entwicklungspsychologie

Moralische Entwicklung im Geschlechts- und Kulturvergleich

Entwicklung im Grundschulalter

Hinsichtlich der Entwicklung der Moral im Grundschulalter können viele Fragen gestellt werden, über die sich Theologen und Philosophen schon lange Gedanken machen. Vor allem wurde darüber nachgedacht, ob das Kind böse geboren wird und nur durch strenge Zucht zur Vernunft kommt oder ob der Mensch ein „unbeschriebenes Blatt“ ist und erst durch die jeweiligen Erfahrungen zu guten oder bösen Absichten kommt (vgl. Mietzel 2002, S. 277).

Sigmund Freud behauptete, dass der Mensch mit mächtigen sexuellen und aggressiven Trieben geboren wird und diese erst im Alter von fünf Jahren, wenn eine Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gelingt und dessen Werte und Verhaltensstandards übernimmt, unter Kontrolle bringt. Watson hingegen stellte sich den Menschen als „unbeschriebenes Blatt“ vor und demnach lernt das Kind erst durch Belohnung bzw. Bestrafung das „richtige“ bzw. „falsche“ Verhalten (vgl. Mietzel 2002, S. 278).

Das moralische Urteil beim Kinde nach Jean Piaget

Jean Piaget untersuchte das moralische Urteil beim Kinde und kam zu mehreren Ergebnissen. Bei Kindern unter fünf Jahren ließen sich überhaupt keine Interessen an Regeln feststellen, wobei sich das nach Schulbeginn ändert. Er kam zu dem Entschluss, dass Kinder im Grundschulalter eine äußere Moral zum Ausdruck bringen, d.h. dass sie der Ansicht sind, dass sie bestimmte Regeln, die von Autoritätspersonen verordnet werden, nicht ändern dürfen. Erst bei Kindern im Alter von elf bzw. zwölf Jahren stellte Piaget fest, dass sie mehr durch ihre innere Moral handeln und somit Regeln als soziale Vereinbarungen sehen, welche veränderbar sind. Weiters stellte Piaget fest, dass Kinder unter elf Jahren die Absichten des Verhaltens einer Person ignorieren und ihr Urteil mit den Folgen einer Handlung begründen. Erst ab zwölf Jahren kommt es den Kindern sehr stark auf die Absichten einer Person, also auf die Hintergründe eines Verhaltens, an (vgl. Mietzel 2002, S. 279).

Die Studie von Sharon Nelson kritisiert jedoch Piagets Ergebnisse, denn er meint; dass Vorschulkinder schon in der Lage sind, Absichten zu erkennen. Sie müssen ihnen nur klar und deutlich aufgezeigt werden, z.B. in Form von Bildern. Dann können Kinder im Alter von fünf Jahren und älter sehr wohl erkennen, ob die Absichten „böse“ oder „gut“ waren. (vgl. Mietzel 2002, S. 279)

Im Grundschulalter sehen die Kinder Regeln, die von Autoritäten verordnet werden aufgrund der hohen Abhängigkeit und des Respekts gegenüber den Erwachsenen als unveränderbar. Aus der Sicht von Piaget sind es vor allem die Gleichaltrigen, die dem Kind bei seiner Entwicklung der Moral weiterhelfen. In der Schule sind die Kinder oft damit konfrontiert, dass andere Mitschüler auch bestimmte Wünsche und Ansichten haben, die mit den eigenen oft nicht übereinstimmten. Sie lernen somit, ihre Sichtweisen zu verändern oder darauf zu beharren. Deshalb haben die Kinder laut Piaget ihre innere Moral Gleichaltrigen zu verdanken, da die Erwachsenen aufgrund der Neigung ihre eigenen Vorstellungen zu vertreten, die moralische Entwicklung des Kindes eher behindern als fördern (vgl. Mietzel 2002, S. 281).

Dies wird jedoch wiederum kritisiert, da Piaget die Untersuchungen in einer Zeit durchführte, wo Erwachsene einen sehr autoritären Erziehungsstil hatten. Eltern können demnach die Sichtweisen der Kinder durchaus beeinflussen, es kommt immer nur auf die jeweilige Umgangsform der Eltern an (vgl. Mietzel 2002, S. 281 f).

Piagets Vorstellungen über die Entwicklung des moralischen Urteils decken sich teilweise mit jenen Kohlbergs, welche im folgenden Abschnitt behandelt werden. Während sie ähnliche Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der moralischen Entwicklung beim Kind erhielten, so liegt der Unterschied vor allem darin, dass laut Piaget die moralische Entwicklung beim Menschen mit etwa elf Jahren abgeschlossen ist. Kohlbergs drei Ebenen der moralischen Entwicklung deuten jedoch darauf hin, dass die Entwicklung mit diesem Alter noch lange nicht beendet ist (vgl. Mietzel 2002, S. 283). Darauf wird im Teil „Adoleszenz und Erwachsenenalter“ noch genauer eingegangen.

Die Entwicklung des moralischen Urteils beim Kinde nach Lawrence Kohlberg

Kohlberg unterschied in seiner Theorie drei Ebenen - präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Ebene - mit je zwei Stufen, wobei das Kind im Grundschulalter der ersten Ebene zugeordnet werden kann. Bei seinen Untersuchungen legte er den Versuchspersonen verschiedene Konfliktsituationen vor und ordnete dann die Reaktionen den verschiedenen Stufen zu. Kohlberg stellte so fest, dass sich Kinder im Alter von cirka fünf bis elf Jahren, im Ausnahmefall auch Erwachsene, an Gehorsam und Bestrafung von Autoritätspersonen (Stufe 1) und am Vertreten der eigenen Interessen (Stufe 2) orientieren (vgl. Montada 2002, S. 637). Die erste Stufe nach Kohlberg entspricht der äußeren Moral nach Piaget.

Teilweise befinden sich Kinder im Grundschulalter auch schon in der konventionellen Ebene, wo das Ziel darin besteht, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Hier befolgt der junge Mensch Regeln nicht mehr aufgrund von Bestrafung, sondern wendet jene Standards an, welche er verinnerlicht hat und erkennt die Auswirkung der eigenen Handlung auf andere Menschen (vgl. Mietzel 2002, S. 283). Das bedeutet, sie handeln nicht mehr nur nach den eigenen Interessen, sondern Beziehungen zu Gruppen und Gemeinschaften werden immer wichtiger. In dieser Stufe tritt die soziale Anerkennung sehr stark in den Vordergrund (vgl. Stangl o.D.).

Adoleszenz und Erwachsenenalter

Die Weiterentwicklung von Moral in Adoleszent und Erwachsenenalter ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Die wichtigste Interpretation von Moral in diesem Altersabschnitt und Grundlagen für die weitere Forschung schuf wohl Lawrence Kohlberg. Carol Gilligan hingegen betrachtete die Entwicklung der Moral geschlechterspezifisch.

Die Theorie von Lawrence Kohlberg

Laut Kohlberg urteilen Jugendliche und die meisten Erwachsene auf der konventionellen Ebene der Entwicklung. Auf der dritten Stufe begründen Jugendliche ihre Beurteilung von Regeln nicht mehr nach dem Ausmaß der Bestrafung. Sie berücksichtigen jetzt den Einfluss sozialer Umstände wie z.B. das Wohl von Mitmenschen und nahe stehender Personen und deren Zustimmung für Handlungen, die in der allgemeinen Gesellschaft grundsätzlich nicht gelten (vgl. Mietzel 2002, S. 248).Den Personen ist es auf dieser Stufe möglich, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Es ist von größter Wichtigkeit, sich um andere zu kümmern und zu helfen, auch wenn moralische Normen verletzt werden. Kohlbergs Untersuchungen zufolge befinden sich einige erwachsene Männer und die meisten Frauen auf dieser Stufe (vgl. Stangl o.D.).

Auf der vierten Stufe, spricht ab dem Übergang in das Erwachsenenalter, urteilen Menschen nicht nur mehr aufgrund sozialer Systeme. Sie entwickeln eine gesellschaftserhaltende Orientierung und eine Motivation zur Pflichterfüllung und Vermeidung von Schuldgefühlen (vgl. Kohlberg zit. nach Mietzel 2002, S. 284). Dies kann so verstanden werden, dass Erwachsene bei der Unterscheidung von rechtmäßigem und unrechtmäßigem Handeln ihre Entscheidungen so treffen, dass weniger Schuldgefühle entstehen bzw. die Erfüllung der Pflicht abgewogen wird. Schon die Philosophie des deutschen Idealismus hatte mit dem Begriff der Persönlichkeit die Idee einer psychologischen Schuld entwickelt, und Anselm von Feuerbach den Grundsatz "keine Strafe ohne Schuld" geprägt, also lange vor Sigmund Freuds Thesen. Aber auch Schopenhauer und Nietzsche haben in ihren Schriften wichtige Erkenntnisse der modernen Psychologie vorweggenommen.

Das postkonventionelle Niveau wird nur von wenigen Menschen und meist erst ab dem Erwachsenenalter erreicht. Auf dieser Ebene werden Entscheidungen aufgrund von eigenen ethischen Standards getroffen. Werte und Gesetzte können also nur mehr relativ sein und werden unter bestimmten Bedingungen ignoriert oder verändert (vgl. Mietzel 2002, S. 345). Den Menschen ist es möglich, nun bestehende Regeln zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern (vgl. Stangl o.D.).

Kohlberg musste mit seiner Theorie der Moralentwicklung allerdings allerhand Kritik einstecken. Ihm wurde vorgeworfen, dass er keinen Geschlechter– und Kulturvergleich in seinen Theorien berücksichtigte. Weiters wurde kritisiert, dass moralische Urteile auch situationsabhängig sind und dass ein Mensch in bestimmten Situationen ein anderes moralisches Verhalten zeigt wie in einer anderen. Es gäbe also kein Stufenmodell von Kohlberg, sondern jede Ebene wäre situationsabhängig (vgl. Mietzel 2002, S. 289 f.).

Geschlechtsvergleich der Moral bei Männern und Frauen

Carol Gilligan nahm Kritik an der Theorie Kohlbergs. Sie vertritt die Meinung, dass es in der moralischen Entwicklung geschlechterspezifische Unterschiede bestehen. Männliche Werte unterscheiden sich von weiblichen Werten.

Die “weibliche Füsorgemoral”

Frauen orientieren sich bei ihren Handlungen laut Gilligan an sozialer Verantwortung, Mitgefühl und Fürsorglichkeit. Konfliktlösungen werden von Frauen über das persönliche Gespräch gesucht um nach verschiedenen Handlungsalternativen zu suchen. Sie wollen dadurch Werte, Normen oder Gesetze nicht verletzen (vgl. Mietzel 2002, S. 346 f.).

Die “männliche Gerechtigkeitsmoral”

Die Handlungen der Männer orientieren sich an Gerechtigkeit und Fairness. Sie gehen von bestehenden Gesetzen oder Normen aus und suchen nach Möglichkeiten zur Belohnung oder Bestrafung (vgl. Mietzel 2002, S. 346 f.).

Gillian stieß mit dieser Behauptung allerdings auf zahlreiche Kritik. Zustimmung erhält Gillian zwar hinsichtlich der Existenz von Unterschieden in den Verhaltensweisen von Männern und Frauen, aber es wird behauptet dass „[…] Mütter und Väter sich nicht in ihrer Fürsorge- oder Gerechtigkeitsorientierung voneinander unterscheiden“ (Clopton & Sorell zit. nach Mietzel 2002, S.347). Das Ausmaß der Fürsorge hänge bei beiden Geschlechtern an der persönlichen Betroffenheit ab.

Moralische Entwicklung im Kulturvergleich

Jede Gemeinschaft wird durch Normen, welche kulturellen oder religiösen Traditionen entstammen, geprägt. Die Legitimität von Normen unterscheidet sich jedoch im Kulturvergleich. Während bestimmte Normen in einer bestimmten Kulturen gelten, werden diese in anderen Kulturgemeinschaften abgelehnt. Es gibt also kulturspezifische moralische Normen (vgl. Montada 2002, S. 619 f.).

In den westlichen Kulturen konnte festgestellt werden, dass schon Kinder im Alter zwischen zweieinhalb und fünf Jahren zwischen moralischen Regeln, welche auf dem Verständnis von Gerechtigkeit beruhen und sich damit der Willkür entziehen, und Konventionen, welche bei Zugeständnis aller Beteiligten geändert werden dürfen, unterscheiden können (Mietzel 2002, S. 286 f.). So bejahen Kinder beispielsweise das Essen mit den Fingern, wenn alle Beteiligten damit einverstanden sind, verneinen aber das Schlagen anderer Menschen, auch wenn dieses nicht verboten wäre (vgl. Nucci zit. nach Mietzel 2002, S. 285 f.). Dies ist auf das Verhalten der Eltern, welche moralischen Werte besonderen Nachdruck verleihen, zurückzuführen (vgl. Nucci & Smetana zit. nach Mietzel 2002, S. 285 ff.).

Auch Kinder anderer Kulturen sind in der Lage zwischen Moral und Konventionen zu unterscheiden. Jedoch unterscheiden sich die moralischen Werte zwischen den Kulturgemeinschaften, da diese vom gesellschaftlichen Kontext mitbestimmt werden. Was nun beispielsweise von in Europa lebenden Kindern als unmoralisch abgelehnt wird, wird in anderen Ländern von gleichaltrigen Kindern nicht als moralisch falsch aufgefasst (vgl. Mietzel 2002, S. 287 f.). So sehen beispielsweise indische Hindu-Kinder das Schlagen der ungehorsamen Ehepartnerin nicht als moralisch verwerflich an, während das Schlagen eines Menschen in den westlichen Kulturen als unmoralisch abzulehnen ist (vgl. Shweder zit. nach Mietzel 2002, S. 287). In Korea beispielsweise wird selbst das nicht herzliche Grüssen der Eltern, was tief in ihrer Tradition verwurzelt ist, als unmoralisch angesehen. (vgl. Rohner & Pettengill zit. nach Mietzel 2002, S. 287).

Individualistische Kulturen, wie es vor allem die westlichen Kulturen sind, werden durch die moralischen Rechte auf Selbstbestimmung sowie individuelle Freiheiten gekennzeichnet, was sich in der Bedeutung von Verträgen und Konventionen widerspiegelt. (vgl. Shweder zit. nach Montada 2002, S. 620). Im Gegensatz dazu sind kollektivistische Kulturen, wie diese in Asien, dem mittleren Osten, Afrika und Lateinamerika vertreten sind, durch eine gegenseitige Abhängigkeit sowie die Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft geprägt (vgl. Markus & Kitayama zit. nach Montada 2002, S. 620). Diese Unterschiede in den Kulturen begründen auch Unterschiede in den moralischen Normen. Während beispielsweise westlich orientierte Kinder und Jugendliche das Stehlen eines Zugtickets, um rechtzeitig zu einer Trauung zu gelangen, bei der man den Ehering dem Brautpaar überreichen musste, als moralisch falsch einstuften, bejahten indische Kinder und Jugendlich den Diebstahl, da diese das Wohlergehen der Gemeinschaft stärker gewichteten, als die Rechte und Pflichten des Einzelnen (vgl. Mietzel 2002, S. 349).

Moralische Normen unterscheiden sich jedoch nicht nur kulturspezifisch, sondern auch hinsichtlich der Rechte und Pflichten der Geschlechter (vgl. Montada 2002, S. 620).

Quellen

Mietzel, G. (2002). Wege in die Entwicklungspsychologie. Kindheit und Jugend. Weinheim: BeltzPVU.

Montada, L. (2002). Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation. In Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 619-647). Weinheim: Beltz.

Stangl, W. (o.D.). Moralische Entwicklung. Online im Internet: WWW: Link (2006-11-28)

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